Der Stall des Augias


Gustav Schwab zeigt, wie intelligent Herakles die scheinbar unmögliche Aufgabe erfüllt, den größten Mist der Welt an einem einzigen Tag zu beseitigen:
Darauf schickte ihn [Herakles] der König Eurystheus zur fünften Arbeit fort, die eines Helden wenig würdig war. Er sollte den Viehhof des Augias in einem einzigen Tage ausmisten.
Augias war König in Elis und hatte eine Menge Viehherden. Sein Vieh stand nach Art der Alten in einer großen Verzäunung vor dem Palaste. Dreitausend Rinder waren da geraume Zeit gestanden, und so hatte sich seit vielen Jahren ein unendliche Menge Mist angehäuft, den nun Herakles zur Schmach und, was unmöglich schien, in einem einzigen Tage hinausschaffen sollte.
Als der Held vor den König Augias trat und, ohne etwas von dem Auftrage des Eurystheus zu erwähnen, sich zu dem genannten Dienste erbot, maß dieser die herrliche Gestatlt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen unterdrücken, wenn er dachte, daß einen so edlen Krieger nach so gemeinem Knechtsdienste gelüsten könne. Indessen dachte er bei sich: Der Eigennutz hat schon manchen wackeren Mann verführt, es mag sein, daß er sich an mir bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf ihm immerhin einen großen Lohn versprechen, wenn er mir den ganzen Stall ausmistet, denn er wird in dem einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum sprach er getrost: "Höre, Fremdling, wenn du das kannst und mir an einem Tage all den Mist herausschaffst, so will ich dir den zehnten Teil meines ganzen Viehstandes zur Belohnung überlassen."
Herakles ging die Bedingung ein, und der König dachte nun nicht anders, als daß er schaufeln anfangen würde. Herakles aber, nachdem er zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen jenes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Viehhofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit davon fließenden Ströme Alpheos und Peneos durch einen Kanal herzu und ließ sie den Mist wegspülen und durch eine andere Öffnung wieder ausströmen.
So vollzog er einen schmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung sich zu erniedrigen, die eines Unsterblichen unwürdig gewesen wäre.
Als aber Augias erfuhr, daß dies von Herakles im Auftrag des Eurystheus geschehen sei, verweigerte er den Lohn und leugnete geradezu, ihm versprochen zu haben; doch erklärte er sich bereit, die Streitsache einem richterlichen Spruche anheimzustellen. Als die Richter beisammen saßen, das Urteil zu fällen, trat Phyleus, von Herakles aufgefordert, auf, zeugte gegen seinen eigenen Vater und erklärte, daß dieser allerdings über einen Lohn mit Herakles übereingekommen sei. Augias wartete den Spruch nicht ab, er ergrimmte und befahl dem Sohne wie dem Fremdling, sein Reich auf der Stelle zu verlassen.
SCHWAB, G. (1965): S. 121-122.



Quelle:
SCHWAB, G.
: Sagen des klassischen Altertums. München, Zürich: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., 1965; S. 121-122.